Das Gesundheits-Debakel
Ärzte-Mangel, volle Ambulanzen, lange Wartezeiten, fehlende Medikamente – unser Gesundheitssystem bröckelt. Die neue Regierung hat dafür kaum konkrete Lösungen.
Diese Nacht wird eine Tirolerin nicht so schnell vergessen. Vor ein paar Monaten stürzte ihre Mutter in der Wohnung. Im Spital wurde unter anderem ein Kniescheibenbruch festgestellt. „Die Folge war ein Gips, der vom Knöchel bis ganz nach oben reichte“, erzählt die Tochter.

Ihre Mutter bekam starke Schmerzmittel. „Aber die behandelnden Ärzte entschieden, meine Mutter nach Hause zu schicken.“ Es sei kein Bett frei. Nur mit größten Anstrengungen konnte sie die mehr als 80 Jahre alte Mutter in deren Wohnung im ersten Stock bringen. „Es sind zwölf Stufen, für die sie mit der Hilfe von zwei Personen lange gebraucht hat. Bei den zwei letzten Stufen meinte sie sogar, sie schaffe es nicht mehr.“

Wir geben 53 Milliarden Euro für die Gesundheit aus

Letztendlich gelang es. Als ihre Mutter nachts jedoch auf die Toilette wollte, stürzte sie mit dem schwerfälligen Gips wieder. „Sie konnte nicht mehr aufstehen und musste die ganze Nacht auf dem Boden verbringen.“ Dort fanden sie ihre Kinder. „Rund um meine Mutter waren alle Sessel umgestürzt, weil sie verzweifelt versucht hatte, sich aufzuziehen.“ Im Spital bekam sie danach einen neuen Gips und wurde wieder nach Hause geschickt. Erst als eine Tochter beherzt und unnachgiebig eingriff, fand sich dann plötzlich ein Spitalsbett.

Die Odysee der betagten Patientin war damit noch lange nicht zu Ende. „Man fühlt sich nach solchen Erlebnissen schlecht und hilflos“, resümiert ihre Tochter, „vor allem, wenn man bedenkt, dass wir alle in das Gesundheitssystem ein Leben lang einzahlen. Dennoch, unser Gesundheitssystem ist krank.“

Rund 53 Milliarden Euro geben wir hierzulande für die Gesundheit aus. Das ist mehr als ein Zehntel des Bruttoinlandsproduktes (BIP), also der wirtschaftlichen Gesamtleistung unseres Landes. In der EU sind wir damit auf Platz drei. Nur Frankreich und Deutschland lassen sich die Gesundheit mehr kosten. Dennoch sinkt die Qualität stetig.

Immer wieder erzählen Patienten von Stunden, die sie tatsächlich krank in Spitalsambulanzen gesessen sind. Auf planbare Operationen müssen Patienten oft lange warten. „Die Wartezeiten auf Operationen schnellen quer durch alle Fachgruppen in die Höhe“, erklärt der Ärztekammer-Vizepräsident Harald Mayer. „Kinder warten zum Beispiel monatelang auf wichtige HNO-Operationen.“

Die Spitalsbetreiber müssten „ihrem Versorgungsauftrag entsprechend Ressourcen bereitstellen – und damit auch mehr Personal – zum Beispiel in der Anästhesie“, fordert der Spitalsarzt Mayer.

Rund 300 Kassenarzt-Stellen sind landesweit unbesetzt

Nicht nur in den Spitälern ist die Lage angespannt. Zuletzt fehlten 182 Hausärzte, vor allem in Oberösterreich, der Steiermark, Wien und Niederösterreich. 110 Kassen-Facharztordinationen waren verwaist. Es mangelt im ganzen Land vor allem an Frauenärzten, aber auch Haut- und Kinderärzte sowie Augenfachärzte fehlen. Oft finden sich monate- oder sogar jahrelang keine Interessenten für eine Praxis.

Viele Patienten warten monatelang auf einen Facharzt-Termin oder zahlen, wenn sie es sich leisten können, gleich für Wahlärzte. Deren Zahl hat sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als verdoppelt. Die Krankenkasse erstattet bei einem Wahlarzt-Besuch nur 80 Prozent der Summe, die ein Kassenarzt dafür abrechnen darf. In der Regel ist das Honorar aber deutlich höher.

Von der früheren Forderung der SPÖ, aus deren Reihen die neue Gesundheits- und Sozialministerin Korinna Schumann kommt, „dass innerhalb von 14 Tagen jeder Mensch in Österreich einen Facharzttermin bekommen soll“, ist im Regierungsprogramm nichts zu finden. Lediglich, dass die schwarz-rot-pinke Koalition Wahlärzte „im Notfall“ verpflichten will, „in einem gewissen Ausmaß Patientinnen und Patienten zu Kassenkonditionen zu behandeln“.

Überhaupt sind im Koalitionspakt von ÖVP, SPÖ und NEOS für das „bettlägrige“ Gesundheitssystem neben dem Versprechen, im nächsten Jahr in Summe 85 Millionen Euro zusätzlich für Frauengesundheit, „psychosoziale Versorgung für Kinder und Jugendliche“ sowie „zur Stärkung der ambulanten Versorgung“ auszugeben, vor allem Absichtserklärungen zu finden. Die neue Regierung will etwa den „Telemedizin-Ausbau“ oder eine Expertengruppe einsetzen „zur Erarbeitung neuer Formen der Finanzierung“.

Konkret ist die Dreier-Koalition jedenfalls beim Sparprogramm. Ab 1. Juni soll der Krankenversicherungsbeitrag für Pensionisten von jetzt 5,1 Prozent auf 6 Prozent erhöht werden. Das bringt der Sozialversicherung 340 Millionen Euro im Jahr. Als Ausgleich will die Regierung die Rezeptgebühr „einfrieren“ und die Obergrenze für die Rezeptgebühren-Befreiung senken. Ansonsten fehlen handfeste Lösungen weitgehend. Dabei sind die dringend notwendig. Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), die Nachfolgerin der neun Gebietskrankenkassen, erwartet für heuer ein Minus von mehr als 900 Millionen Euro.

Schon im Vorjahr fehlten 500 Millionen Euro im ÖGK-Budget. Verantwortlich dafür macht die Sozialversicherung nicht nur die schwache Wirtschaftslage und damit die fehlenden Beiträge, sondern auch „die steigende Zahl der Arztbesuche, kostenintensivere medizinische Leistungen“ aber auch die Alterung der Gesellschaft.

Die ÖGK will bei sich sparen. Um die „langfristige Finanzierbarkeit sicherzustellen“, sei aber eine Finanzspritze vom Bund nötig.

Dutzende Medikamente sind schwer oder nicht verfügbar

Bei den Ärzten schrillen angesichts der ÖGK Finanzprobleme die Alarmglocken. „Es drohen Einschränkungen bei Behandlungen, längere Wartezeiten und eine steigende finanzielle Belastung für Versicherte, etwa durch höhere Selbstbehalte oder Zuzahlungen sowohl für Therapien als auch Medikamente“, befürchtet der „oberste Hausarzt“ der Ärztekammer, Edgar Wutscher.

Dutzende Medikamente sind derzeit ohnehin gar nicht oder nur eingeschränkt verfügbar. Letzteres gilt zum Beispiel für das Präparat „Ebetrexat“, das unter anderem Arthritis-Patienten bekommen. Dafür gibt es nun zumindest leichter einen Ersatz. Von den Sozialversicherungen wurde „eine Abgabe von niederländischer Ware ohne chefärztliche Bewilligung gestattet“, heißt es bei der Apothekerkammer. Die Gründe für Lieferausfälle sind vielfältig.

Allerdings erklärt ein Sprecher der Apothekerkammer auch: „Österreich gilt bei Medikamenten als ,Billigland‘.“ Daher werden wir im Falle von Engpässen „in der Regel schlechter beliefert als andere Länder.“