Wir müssen das Corona-Trauma aufarbeiten
Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen, tiefere, als wir wahrhaben wollen. Experten drängen auf die Aufarbeitung unserer Traumen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, deren Wohlbefinden und sogar das Recht auf Meinungsfreiheit würden dadurch gestärkt.
Nach mehr als drei Jahren Pandemie endeten in unserem Land am 1. Juli 2023 alle Corona-Maßnahmen. Damals schwangen Politiker große Reden, versprachen bessere Zeiten und die Rückkehr zur Normalität. Wenig später wurden wir eines Besseren belehrt.

Den Menschen in unserem Land geht es immer schlechter, die Wirtschaft schrumpft, die Armut steigt. Viele fühlen sich verunsichert oder gar kränklich, klagen über Schlaf- und Angststörungen, Migräneanfälle und Depressionen. Etwa 5,8 Millionen Krankenstandstage fielen 2023 mit der Diagnose „Psychische Erkrankung“ an.

Das machte gut zehn Prozent aller Krankenstandstage aus, wobei die durchschnittliche Dauer eines solchen Krankenstandes bei 37,2 Tagen lag. Damit lagen Zahl und Dauer der Krankenstände auf Rekordniveau.

Der sprunghafte Anstieg kam mit der Pandemie und ist kein Zufall, sind sich Experten sicher. Ausgangssperren, strenge Lockdown-Regeln und der Impf-Druck haben unsere Gesellschaft belastet und entzweit. „Meine Patienten waren verzweifelt“, erinnert sich der in Wien tätige Psychiater und Bestseller-Autor Dr. Raphael Bonelli. „Manche haben sich hingesetzt und geweint. Diese Zeit war düster.“

Dass jetzt wieder alles gut sein soll, fällt schwer zu glauben und „ist auf keinen Fall so“, sagt der Grazer Soziologe und Universitätsprofessor Dr. Manfred Prisching. „Eine Gesellschaft muss ihre Traumen aufarbeiten, sonst wird sie von ihnen irgendwann eingeholt. Für eine gut funktionierende Gesellschaft ist das gemeinsame Erkennen und Offenlegen von Missständen entscheidend. Nur so können wir als Einheit weiter bestehen und eine Wiederholung der düsteren Vergangenheit vermeiden. Gesellschaften, die Probleme leugnen, können an ihnen zerbrechen“, mahnt Prisching.

Eine Corona-Friedenskonferenz wäre sinnvoll

Es gilt, die Fakten nüchtern auf den Tisch zu legen. Um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu festigen, könnte eine Corona-Friedenskonferenz sinnvoll sein, ist immer wieder aus Expertenkreisen zu hören. Daran sollten vom Bundespräsidenten, Gesundheits- und Wirtschaftsminister abwärts alle wichtigen Entscheidungsträger teilnehmen sowie die Vertreter konträrer Lager, darunter Impfskeptiker und Lockdown-Gegner. Die sachliche Auseinandersetzung mit Corona und die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, würden unsere Gesellschaft festigen.

Nach Ansicht des Psychiaters Bonelli drehe sich bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung vieles um die Frage, wer sich zu Corona-Zeiten bereichert habe. „Geld wurde teils zu Unrecht vergeben. Wird das Unrecht wieder gutgemacht? Wenn wir wissen, was genau passiert ist, verändert das automatisch unsere Sicht auf die Dinge, und Politiker werden sich künftig hüten, dieselben Fehler noch einmal zu begehen.“

Sie müssen sich ihrer Verantwortung einmal mehr bewusst werden. Zum anderen stärkt die öffentliche Aufarbeitung das Selbstbewusstsein der Menschen. Sie fühlen sich eingebunden und können im Freundes- und Bekanntenkreis eifrig mitdiskutieren. Das war während der Pandemie und das ist auch heute nicht der Fall. „Meine Patienten hatten damals Angst, ihre Meinung zu äußern“, sagt Dr. Bonelli.

„Noch heute vermeiden sie das Thema öffentlich, aus Angst, diskriminiert zu werden.“ Eine ehrliche Auseinandersetzung sei daher dringend nötig. „Es geht hier auch um die Wahrung der Meinungsfreiheit“, ist der Psychiater überzeugt. „Es muss möglich sein, anders zu denken, ohne dafür ausgegrenzt oder gar von ganzen Gruppen bedroht zu werden. Erst, wenn Unrecht ans Licht kommt, erkennen die Menschen, dass es gut und richtig war, für ihre Werte und Überzeugungen einzustehen.“

Corona müsse kollektiv, aber auch individuell aufgearbeitet werden, ist die Psychotherapeutin Sarah Deutsch-Lang überzeugt. Nach Aussagen der Expertin leiden fast zwei Drittel ihrer Patienten an den Folgen der Pandemie. Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen oder Panikattacken würden deren Alltag bestimmen.

Doch das ist nicht alles. Was Corona für Wissenschaftler so interessant macht, ist die „Triggerfunktion“. „Corona war ein Auslöser für unaufgearbeitete Traumata“, erklärt die Expertin. Das zeige sich oft erst im Zuge mehrerer Therapieeinheiten. Menschen zum Beispiel, die eine lieblose Kindheit hatten und während der Pandemie neuerlich eine Isolierung erfuhren, brachen innerlich regelrecht zusammen. Nicht zufällig entfielen 2023 rund 32 Prozent aller Frühpensionierungen auf die Diagnose „Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen“. Bei Frauen waren es sogar fast 43 Prozent.

Die Menschen konnten nicht mehr. Deutsch-Lang empfiehlt Betroffenen, sich professionelle Hilfe zu holen. Corona gesellschaftlich und individuell aufzuarbeiten, ist auch für Nachfolge-Generationen entscheidend. Denn Traumata seien vererbbar, betont Deutsch-Lang. Was wir nicht verarbeiten, wird noch unsere Kinder und Kindeskinder beschäftigen.

Zum Beispiel führte der deutsche Mediziner Philipp von Issendorff Studien durch, die belegten, dass Kinder, deren Eltern die schrecklichen Luftangriffe auf Hamburg (D) im Jahr 1943 erlebten, schwer an den Folgen der Bombardements litten.

Zwar zeigten sie nicht die direkten Traumasymptome ihrer Eltern, doch wurden sie in vielen Fällen von Angststörungen geplagt. Manche schliefen schlecht, gerieten in dunklen, bunkerartigen Räumen in Panik und fürchteten laute Geräusche. Jelincic