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Ausgabe Nr. 45/2025 vom 04.11.2025, Foto: zvg
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Dr. Walter Rabl erzählt über das „faszinierende Fach der Gerichtsmedizin“.
Leichen lügen nicht
Serie – Gerichtsmedizin Teil 5
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Seit „Dr. Quincy“, der jeden Fall löst, sind sie populär. Im Fernsehen sind Gerichtsmediziner beliebt. Die Arbeit der Experten, die zwar keine Mordfälle aufklären, den Leichen jedoch so manches Geheimnis entlocken, wird in einem neuen Buch aufgezeigt.
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Wird mehr als eine Leiche am selben Ort gefunden, geht die Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes gegen null. „Das ist eine der klaren Regeln für die Polizei, die Staatsanwaltschaft und natürlich auch für uns Gerichtsmediziner“, sagt Dr. Walter Rabl, der bis zu seiner Pensionierung Ende 2024 stellvertretender Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin in Innsbruck war.

Doch was sich hinter solchen „Mehrleichenfunden“, wie sie in der Fachsprache genannt werden, im Einzelfall genau verbirgt, ist oftmals eine komplexe Geschichte – „und nicht immer ist es einfach, die verschiedenen Konstellationen voneinander abzugrenzen“.

Ein „echter“ gemeinsamer Suizid ist denkbar, wenn zwei Menschen aus freiem Willen beschließen, aus dem Leben zu gehen. Meist wählen sie dieselbe Methode, oft Medikamente, und bereiten alles akribisch vor. Ein deutlich düstereres Szenario ist der sogenannte erweiterte Suizid oder „Mitnahme-Suizid“. Hier entscheidet ein Beteiligter über das Leben eines anderen Menschen – ohne dessen Einverständnis oder gegen dessen Willen – und setzt danach seinem eigenen Leben ein Ende.

Ein 50 Jahre altes Rätsel konnte gelöst werden

„Unsere Aufgabe ist, den Ablauf und die Zusammenhänge dieser tragischen Ereignisse zu rekonstruieren, selbst wenn alle Beteiligten tot sind. Eindeutig ist das nicht immer“, weiß der Gerichtsmediziner.

Fragen müssen geklärt werden: Sind Abwehrspuren vorhanden? Gibt es Hinweise auf einen Kampf? Wurde einer Person Gewalt angetan, bevor sie starb? „Manchmal“, sagt Rabl, „sind es winzige Hämatome an den Handgelenken, kleine Hautabschürfungen oder die Position der Leichen zueinander, die uns die entscheidenden Hinweise geben.“ Ein gemeinsamer Suizid, der ihn besonders berührt hat, betraf ein Liebespaar, das sich lange vor seiner Geburt entschlossen hat, aus dem Leben zu gehen.

„Und doch konnte ich daran mitwirken, das Rätsel um ihr Verschwinden zu entschlüsseln und viele offene Fragen der Familie zu beantworten“, berichtet er in seinem Buch „Leichen lügen nicht“ (Ueberreuter Verlag) über das „Liebespaar aus dem Achensee in Tirol“.

Den Ausgang nahm die Untersuchung im Jahr 1989, als Sporttaucher in Tirols größtem See, in einer Tiefe von 50 Metern, einen Wagen der Marke Steyr entdeckten.

Im Inneren war eine menschliche Gestalt zu erkennen. Einige Wochen nach der Sichtung bargen Spezialisten das Wrack.

Als er zum Fundort gerufen wurde, ahnte noch niemand, dass sich ein 50 Jahre altes Rätsel lösen würde. Der Achensee ist nicht nur tief, sondern auch kühl. Das sind zwar nicht so ideale Voraussetzungen für Taucher und Gerätschaften, aber perfekte Bedingungen für die Konservierung von organischem Material.

Als der Schlamm aus dem Wageninneren herausgeschöpft wurde, stellte sich der Fund noch spektakulärer dar. Im Auto befanden sich zwei Leichen. Der Körper einer Frau war als sogenannte Wachs- oder Fettwachsleiche gut erhalten.

Dieses Phänomen tritt ein, wenn ein Körper in kaltem Wasser ohne Sauerstoff liegt und nicht verwest. Das Körperfett wandelt sich dabei in eine wachsartige Substanz um. Da Frauen einen höheren Körperfettanteil haben, war ihr Leichnam besser konserviert als der des männlichen Begleiters, von dem nur noch ein Skelett vorhanden war.

Beide Leichen befanden sich auf der Rückbank des Wagens, der sich als regelrechte Zeitkapsel erwies. In einer Ledertasche befanden sich Utensilien eines Handelsvertreters, darunter erstaunlich gut erhaltene Dokumente der Firma. Um die Oberarmknochen des männlichen Leichnams waren Gummibänder geschlungen, die die Hemdärmel auf gleicher Höhe hielten.

Die Handtasche der Frau enthielt eine Dose Nivea-Creme, einen Lippenstift und ein Fläschchen 4711 Kölnisch Wasser, das nach einem halben Jahrhundert unter Wasser immer noch intensiv duftete.

All das und weitere Details führten zu zwei Personen, die im Juni 1939 verschwunden waren, und zwar ein damals 25jähriger Vertreter und seine 30jährige verheiratete Freundin.

Zweifelsfrei identifiziert wurden die beiden durch eine sogenannte „Superprojektion mittels Video-Bildmischtechnik“. Dabei wird der gefundene Schädel mit Fotos der Abgängigen digital überblendet.

Markante Gesichtsanteile wie Nase, Augenhöhlen, Kieferwinkel oder die Zahnstellung müssen dabei exakt übereinstimmen. DNA-Untersuchungen waren damals noch nicht möglich. Die Angehörigen waren davon ausgegangen, dass sich das Liebespaar, das eine gemeinsame Tochter hatte, wegen der bevorstehenden Einberufung des Mannes zur Wehrmacht ins Ausland abgesetzt hat.

Briefe und Tagebuchnotizen zeigten jedoch, dass der gemeinsame Tod sorgfältig geplant war. Dafür wählten die beiden den tiefen See, fixierten das Lenkrad und nahmen auf der Rückbank Platz.

„Die Leichen wurden uns nach der Untersuchung von den Hinterbliebenen für die wissenschaftliche Sammlung der Gerichtsmedizin Innsbruck zur Verfügung gestellt.

Was dem schriftlich festgehaltenen letzten Willen des Paares entsprach, zumindest im Tod vereint zu sein“, erzählt Rabl.

Den goldenen Ring mit den Initialen der Liebenden konnte er schließlich einer Angehörigen übergeben.

Wenn Ärzte bei der Leichenbeschau nicht hinsehen:

Entscheidend dafür, ob eine Empfehlung zur Obduktion folgt, sind die Erkenntnisse der Totenbeschauärzte. Sie müssen geschult werden, um selbst kleine Verdachtsmomente wahrzunehmen und die mitunter kaum sichtbaren Anzeichen eines nicht natürlichen Todes zu erkennen.

In unserem Land schreiben neun verschiedene Landesgesetze vor, wann, wie und durch wen eine Leichenbeschau durchzuführen ist. Beschauärzte werden zudem nicht überall gleich ausgebildet, was einer einheitlichen Qualität nicht förderlich ist. Die Qualitätssicherung beginnt damit, dass bei der Totenbeschau eine Untersuchung des gesamten – und zwar unbekleideten – Körpers unerlässlich ist.

„Wenn der Beschauarzt die Krankengeschichte einer verstorbenen Person gut kennt, neigt er dazu, die Todesursache anhand der medizinischen Vorgeschichte zu diagnostizieren – zum Beispiel einen Herzinfarkt. Bei alten Menschen wird, was wissenschaftlich belegt ist, die Todesursache generell weniger genau untersucht als bei jungen, weil eher von einem natürlichen Tod ausgegangen wird. Doch auch bei einem Pflegepatienten muss damit gerechnet werden, dass ein Sturz samt Verletzung dahintersteckt oder beim Tod womöglich gar jemand ,nachgeholfen‘ hat“, sagt Dr. Walter Rabl.

Sein Berufskollege, Dr. Johann Missliwetz, der am Institut für Gerichtliche Medizin in Wien (heute: Zentrum für Gerichtsmedizin) tätig war, ist gar der Ansicht, dass die Totenbeschau mitunter mangelhaft durchgeführt wird. „Zumal eine persönliche Erfahrung meine These untermauert.

Nachdem meine Tante an Krebs gestorben war, rief ich den Beschauarzt an. Der fragte mich lediglich nach meinem Verwandtschaftsverhältnis zur Verstorbenen, meine Identität überprüfte er aber nicht.

Ich zeigte ihm dann den Befund des Spitals, in dem sie behandelt wurde. Er sah quasi aus der Ferne ins Schlafzimmer hinein, wo meine Tante, zugedeckt bis zum Kinn im Bett lag. Sie hatte eine Hautmetastase im Gesicht, die den Arzt dazu bewog, mich zu fragen, was denn dies sei.

Daraufhin meinte er, die Leiche sei freigegeben und unterschrieb die Todesbescheinigung. Selbst wenn meine Tante erstochen und erwürgt worden wäre – es wäre unentdeckt geblieben, weil nichts angeschaut wurde. Wobei es die Aufgabe des Arztes ist, den unbekleideten Körper zu untersuchen“, hält er fest.

„Statistiken, in denen über Todesursachen berichtet wird, genieße ich daher mit höchster Vorsicht“, meint er.

Ein äußerst verstörender Mord auf Video

Überall dort, wo er geht, was er berührt, was er hinterlässt, auch unbewusst, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn.

Nicht nur seine Fingerabdrücke oder seine Fußabdrücke, auch seine Haare, die Fasern aus seiner Kleidung, das Glas, das er bricht, die Abdrücke der Werkzeuge, die er zurücklässt, die Kratzer, die er in die Farbe macht, das Blut oder Sperma, das er hinterlässt oder an sich trägt. All dies und mehr sind stumme Zeugen gegen ihn.

Dieses Zitat stammt von dem französischen Arzt und Juristen Edmond Locard (1877–1966). Er gilt als Pionier im Bereich der Forensik. Der „Sherlock Holmes von Frankreich“, wie er genannt wurde, formulierte das Grundprinzip der forensischen Wissenschaft. Es besagt, dass „jede Berührung eine Spur hinterlässt“. Sein bekanntestes Werk sind die sieben Bände der „Traité de criminalistique“ (Lehrbuch der Kriminalistik).

„Wer mit Menschen, Gegenständen oder Räumen in Kontakt war, nimmt auch etwas mit. Daher finden sich am Täter oder der Täterin oft noch Spuren des Opfers, der Tatwaffe oder vom Tatort. Umgekehrt hinterlassen Täter und Täterinnen fast immer ihre ,Visitenkarte‘ am Tatort, an der Tatwaffe oder am Opfer, selbst wenn die Spuren noch so schwach ausgebildet sind“, erklärt Dr. Walter Rabl das als „Locard‘sche Regel“ bezeichnete
gerichtsmedizinische Prinzip.

Er erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Fall, der aufgrund besonders großflächiger Blutspuren außergewöhnlich war. „Die wurden in einer kleinen Erdgeschoßwohnung im Innsbrucker Universitätsviertel
vorgefunden.

Es war wohl auch die Vielfalt auffälliger Verletzungen am Toten, die den Beamten sofort ins Auge sprang. Der Tatort lag nur ein paar Häuserblöcke entfernt von unserem Gerichtsmedizinischen Institut“, sagt er. Ein Anruf aus Belgien hatte zuvor die Notrufzentrale erreicht. Der Mann am anderen Ende der Leitung sorgte sich um seine Freundin, die ihn panisch angerufen hat, um ihm mitzuteilen, dass in der Wohnung, in der sie sich gerade aufhielt, etwas Schreckliches passiert ist.

Ein tatsächlich grauenvoller Anblick bot sich dem Gerichtsmediziner, als er den Leichnam in Augenschein nahm. „Ein schlanker, jüngerer Mann lag inmitten eines wilden Durcheinanders, blutüberströmt, sein Gesicht entstellt. Die rechte Hand war scharfrandig abgetrennt worden und lag einige Meter entfernt. Welchem brutalen, fast ritualisierten Gewaltexzess der inzwischen identifizierte 29jährige Hotelmitarbeiter ausgesetzt gewesen sein musste, zeigte uns wenige Stunden später die Obduktion“, sagt Rabl. Der Mann wurde mit einem Ledergürtel ausgepeitscht und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt.

Während das Opfer noch lebte, schnitt ihm der Täter mit einem Küchenmesser die rechte Hand ab, stach ihm in den Hals und durchtrennte seine Luftröhre.

Die Untersuchungen ergaben, dass der Todeskampf mehr als fünfzehn Minuten gedauert haben muss.

„Dem bereits leblosen Mann rammte der Täter dann noch elf Mal das Messer in den Unterbauch, schnitt ihm die Unterlippe und Wange ab und forderte schließlich seine Freundin auf, auch noch auf das Opfer einzustechen“, beschreibt Rabl den Tathergang. Die Polizei nahm noch am Tatort einen 25jährigen Ladenbesitzer und eine 22jährige Kellnerin fest, die beiden Mieter der Wohnung, sowie eine weitere junge Frau.
Deren Freund in Belgien hatte den Polizeieinsatz ausgelöst.

Besonders verstörend an dem Fall ist für den Gerichtsmediziner nach wie vor die Tatsache, dass das Pärchen die gesamte Tat mit dem Smartphone gefilmt hat. „So etwas habe ich in meiner langjährigen Praxis zuvor noch nie erlebt. 80 Minuten digitale Dokumentation eines Blutbades, die später auch den Geschworenen während des Strafprozesses gezeigt wurden, bei dem ich die gerichtsmedizinischen Befunde erläutern musste“, erinnert er sich.

Das Bild, das die Anklageschrift sowie die Aussagen der Zeugen und Sachverständigen vor Gericht zeichneten, war ein toxischer Cocktail aus sexueller Gewalt, exzessivem Alkoholkonsum und unkontrollierter Brutalität.

Der Täter, dem die Gerichtspsychiaterin eine schwere Persönlichkeitsstörung attestierte, wurde im Verfahren wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, zudem wegen Vergewaltigung und Leichenschändung.
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