Anmelden
Abonnieren
Ausgabe Nr. 41/2025 vom 07.10.2025, Foto: privat
Artikel-Bild
Dr. Walter Rabl erzählt über das „faszinierende Fach der Gerichtsmedizin“.
Leichen lügen nicht
Jetzt neu: Hier klicken
und Artikel an Freunde verschenken.
Seit „Dr. Quincy“, der jeden Fall löst, sind sie populär. Im Fernsehen sind Gerichtsmediziner beliebt. Die Arbeit der echten Gerichtsmediziner, die zwar keine Mordfälle aufklären, den Leichen jedoch so manches Geheimnis entlocken, wird in einem neuen Buch aufgezeigt.
Auf Play drücken
um Artikel vorlesen
zu lassen.
Der „Amtsschimmel“ verfolgt uns noch im Tod. Der leblose Körper landet in der Obhut der staatlichen Behörden. Bis zur Bestattung ist der Umgang mit einer Leiche genau vorgeschrieben.

Bei der Totenschau, die erforderlich ist, um den Tod offiziell zu bestätigen, stellt der Arzt die Todesursache sowie den Todeszeitpunkt fest. Wenn die Todesursache unklar ist oder ein Fremdverschulden vermutet wird, veranlasst der Arzt eine Obduktion zur genaueren Untersuchung.

„Vorweg möchte ich auf eine verbreitete Verwirrung hinweisen, die den Unterschied zwischen Pathologie und Gerichtsmedizin betrifft. ,Die Kommissare sollen in die Pathologie kommen‘, sagt die Sekretärin häufig in Fernseh-Krimis. Dies könnte auf einem Übersetzungsfehler beruhen. In vielen englischsprachigen Ländern heißt die medizinische Ausbildung, die unserer Gerichtsmedizin entspricht, ,forensic pathology‘, also ,forensische Pathologie‘“, sagt Dr. Walter Rabl. Der Gerichtsmediziner war 20 Jahre lang Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin und Vizedirektor des Institutes für Gerichtliche Medizin Innsbruck.

In 41 Jahren 8.000 leblose Körper begutachtet

Im deutschsprachigen Raum sind Pathologie und Gerichtsmedizin jedoch zwei eigenständige medizinische Fächer. Die Pathologie ist die Lehre von den Krankheiten, deren Entstehung, Verläufe und Folgen. Die Gerichtsmedizin hat ganz andere Aufgaben. „Unsere Expertise kommt ins Spiel, wenn rechtliche Fragen mithilfe von medizinischen, histologischen, chemisch-toxikologischen oder molekularbiologischen Erkenntnissen beantwortet werden sollen. Wir sind für die Untersuchung fremdverschuldeter Todesfälle, für Fälle von plötzlichem Tod unklarer oder eindeutig nicht-natürlicher Ursache oder für ärztliche Fehlbehandlungen mit Todesfolge zuständig“, erklärt Dr. Rabl.

Der 66jährige Tiroler, der „etwa 8.000 Leichen“ obduzierte, war als gerichtlich beeideter Sachverständiger häufig im Einsatz. Fälle und Fakten aus seinem Arbeitsleben beschreibt er im Buch „Leichen lügen nicht“ (Ueberreuter Verlag). Was im Seziersaal passiert und an welche Grenzen die „Gehilfen des Gerichtes“ stoßen, erläutert er im WOCHE-Gespräch.

Herr Dr. Rabl, „Leichen lügen nicht“ – heißt das, dass Tote die ganze Wahrheit offenbaren?

Was reißerisch klingt, ist grundsätzlich richtig. Unsere Fälle bringen mit sich, dass uns Beteiligte regelmäßig verfälschte oder schlicht erfundene Geschichten auftischen. Der mutmaßliche Täter war angeblich „nie auch nur in der Nähe des Opfers“. Ganz zu schweigen von den Zeugen, die „mit der Sache rein gar nichts zu tun“ haben. Sie alle sagen möglicherweise nicht die Wahrheit. Die Spuren hingegen, die wir analysieren, die Gewebeproben, die Computertomografie-Bilder und nicht zuletzt die Leichen auf dem Seziertisch lügen nicht.

Was ist angesichts der „toten Tatsachen“ die Kernaufgabe
des Gerichtsmediziners?


Der Gerichtsmediziner muss bei der Obduktion einer Leiche möglichst viele Befunde erheben. Dabei müssen die Befunderhebung und die Schlussfolgerung daraus strikt voneinander getrennt werden. Bei der Befundaufnahme stelle ich blaue Flecken, Schürfwunden und Knochenbrüche fest, im zweiten Schritt erfolgt die Interpretation, sprich, wie kam es zu den Verletzungen. Aus ein und demselben Befund können möglicherweise unterschiedliche Schlüsse gezogen werden. Bei einer Rötung kann ein Trauma, eine chemische Einwirkung oder ein Sonnenbrand die Ursache sein. Am Befund der Rötung ändert das nichts.

Für Aufsehen sorgte ein Fall in St. Johann in Tirol. Im August 2022 verstarb ein behinderter Sechsjähriger in der Kitzbüheler Ache. Sein Vater geriet unter Mordverdacht. Der Bub ist laut Obduktion ertrunken. Im Prozess spielten Gutachten eine wichtige Rolle. Ein Sachverständiger legte dar, dass die Version des Verdächtigen, er sei überfallen worden, nicht stimmen könne. Die Kopfverletzungen des Vaters seien für eine längere Bewusstlosigkeit nicht schwer genug gewesen. Der Vater wurde freigesprochen. Würden Sie anhand dieses Beispieles den Einfluss von Gutachten auf den Ausgang von Strafverfahren erläutern?

Man kann von Gerichtssachverständigen nicht erwarten, dass sie wie in den Fernseh-Krimis Mordfälle aufklären. Wir können nur die medizinischen Fakten erläutern und die konkreten Fragen der Staatsanwaltschaft beantworten. Bei dem angesprochenen Fall ging es um eine Bagatell-Verletzung am Kopf und um eine leichte Unterkühlung. Das alles wurde medizinisch abgeklärt. Was bei der Gerichtsverhandlung herauskommt, ist die andere Seite. Als junger Gerichtsmediziner dachte ich mir öfter, da macht man sich so viel Arbeit mit den Gutachten und der Richter und die Geschworenen kommen zu einem anderen Urteil. Im Prinzip ist der Sachverständige ein Gehilfe des Gerichtes, der mit seinem Sachverstand Fragen beantwortet, die in die Gerichtsverhandlung einfließen.

Was unterscheidet den Fernseh-Gerichtsmediziner vom echten?

Ein großes Missverständnis ist die Todeszeit, die in Krimis schnell und konkret angegeben wird, also „der Tod ist zwischen 16 Uhr und 16.30 Uhr eingetreten – Näheres nach der Obduktion“. In der Praxis ist dem nicht so. Werden die Temperaturverhältnisse der Umgebung und der Leiche richtig eingeschätzt, sind es plus, minus drei Stunden, um den Todeszeitraum einzugrenzen. Der zweite grobe Fehler in Krimis ist, dass Angehörige vorgeladen werden, um die Leiche zu identifizieren. Ein Schwachsinn, da eine persönliche Identifizierung gar nicht zulässig ist. Allenfalls wird ein Foto hergezeigt. Nach dem Interpol-Standard gibt es drei Hauptmöglichkeiten der Identifizierung, und zwar mittels Fingerabdruck, Zahnstatus sowie per DNA-Analyse.

Beim Lawinenunglück in Galtür (Tirol), als die Leichen geborgen wurden, hat eine Niederländerin einen der 38 Toten als ihren Mann identifiziert. Wir mussten der Frau beweisen, dass es sich nicht um ihren Mann handelte. Oder ein Fall, in dem es um eine Vergewaltigung ging.

Die Frau, also das Opfer, und unabhängige Zeugen identifizierten einen Mann nach einer Gegenüberstellung eindeutig als den Vergewaltiger.
Erst als das Sperma analysiert wurde, stellte sich heraus, dass er es nicht gewesen sein kann. Er hat ihm nur erstaunlich ähnlich geschaut.

Was ist am Tatort oder Leichenfundort Ihre erste Handlung?

An Tatorten sind wir Gerichtsmediziner nur dann, wenn die Kriminalbeamten oder die Spurensicherer außergewöhnliche Befunde erheben und dafür einen Sachverständigen benötigen. Das war bei einem Mann der Fall, der viele unterschiedliche Verletzungen im Gesicht und am Oberkörper aufwies und kein Tatwerkzeug auffindbar war. Zudem waren in der Wohnung unterschiedlichste Blutspuren, teils in Spritzerform, teils als Abklatschspuren zu erkennen. Auch die Interpretation sogenannter Blutspurenmuster fällt in den Aufgabenbereich der Gerichtsmedizin. Priorität am Tatort hat die Spurensicherung, dann folgt der Gerichtsmediziner.

Natürlich wird die Schutzkleidung angezogen, um mit den Kriminalbeamten den Leichnam zu begutachten, die Bekleidung sowie die freiliegenden Körperpartien anzuschauen. In der Regel werden die Umgebungs- und die Körpertemperatur gemessen. Dann wird der Leichnam umgedreht und die Rückseite begutachtet. Wenn die Untersuchungen vor Ort abgeschlossen sind, wird der Bestatter verständigt. Der holt unter polizeilicher Aufsicht die Leiche ab und bringt sie in den Kühlraum der Gerichtsmedizin – verpackt in einer Hülle, damit kein Spurentransfer stattfindet.

Was passiert im Seziersaal?

Die Leiche wird in Anwesenheit der Polizei aus der Kühlung geholt, die den Leichnam mit Fotos dokumentiert. Dann erfolgt die äußere Besichtigung, standardmäßig nach einem Protokoll. Von Kopf bis Fuß werden Bekleidung, Verschmutzung und Beschädigungen dokumentiert. Die Körperoberfläche wird bei optimaler Beleuchtung – bei Tageslichtlampen wie in Operationssälen – untersucht. Dann erfolgt der innere Befund. Demgemäß müssen alle drei

Körperhöhlen – die Brusthöhle, die Bauchhöhle und der Schädel – geöffnet und alle Organe betrachtet und untersucht sowie entsprechende Proben entnommen werden.

Im Interesse der Öffentlichkeit steht der „Fall Christian Pilnacek“. Am 20. Oktober 2023 verstarb der Justiz-Sektionschef in einem Seitenarm der Donau in der
Wachau (NÖ). Seither wird über Unfall, Suizid oder Mord spekuliert. Was sagen Sie dazu?


Ich verfüge lediglich über die medial verbreiteten Informationen. Es wäre unseriös, mich dazu konkret zu äußern. Festhalten möchte ich nur soviel, dass im Hintergrund einer Obduktion die Zusatzuntersuchungen mehrere Monate dauern können. So lange bleibt die Leiche jedoch nicht beschlagnahmt. Alle Proben, die für die Untersuchungen erforderlich sind, werden bereits bei der Obduktion entnommen, dann wird der Leichnam zur Bestattung freigegeben. Im „Fall Pilnacek“ würde das bedeuten, dass ein Ertrinken bereits bei der Obduktion klar festzustellen ist, und die weiteren Abklärungen wie die toxikologischen Untersuchungen im Hintergrund weiterlaufen. Mir sind alle am Gutachten Beteiligten bekannt und ich gehe davon aus, dass sauber und exakt gearbeitet wurde. Christian Matzenauer, der bei mir die Facharztprüfung ablegte, hat die Befunde sicher gut dokumentiert und protokolliert. Wenn ein Prominenter auf dem Seziertisch liegt, wird noch präziser gearbeitet, weil klar ist, dass etliche Menschen darauf schauen.

Die „Wiener Mädchenmorde“ Ende der 1980er Jahre

Bereits mit den geringsten Spurenmengen und mit stark beschädigtem Material können die Gerichtsmediziner immer präzisere Ergebnisse liefern, oft noch Jahrzehnte nach der Tat“, sagt Dr. Walter Rabl. Gemeint sind die Fortschritte in der DNA-Analyse, die in den 1980er Jahren ihren Durchbruch hatte.

Die DNA, Desoxyribonukleinsäure oder DNS) speichert den genetischen „Bauplan“ eines jeden Lebewesens. „Vor allem beim Bearbeiten alter Fälle eröffnet sich damit eine neue Dimension, was die Zuordnung von Spuren betrifft.“

Die Spurenträger werden in der Nationalen DNA-Datenbank am Gerichtsmedizinischen Institut in Innsbruck untersucht und bei minus 30 Grad für potenzielle Untersuchungen aufbewahrt.

Ein Fall, der immer noch Unbehagen auslöst

Noch heute denkt Dr. Rabl mit Unbehagen an den einen Tag im Advent des Jahres 2003, als er vor einem Wiener Geschworenengericht stand. „Der Fall, den ich als Gutachter zu erläutern hatte, war erschütternd.

Es ging um Nicole S., ein Mädchen von gerade einmal acht Jahren, das am 22. Dezember 1990 auf dem Nachhauseweg verschwand und tags darauf tot in einem Waldstück am Laaer Berg in Wien-Favoriten gefunden wurde. Was der Täter dem Kind angetan hatte, war unfassbar brutal. Er vergewaltigte das Kind, erdrosselte es mit den eigenen Schuhbändern und erschlug es mit einem Ast.

Dreizehn Jahre später wollte das Gericht von mir wissen:

Waren die auf dem Opfer und am Tatort gefundenen DNA-Spuren dem Angeklagten zuzuordnen?

Meine Antwort: Die DNA-Spuren stimmten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überein. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere Person idente genetische Merkmale haben könnte, lag bei eins zu einer Milliarde, es gab ,keinen vernünftigen Zweifel‘, wie wir gerne formulieren.

Bei der Gewaltserie, die Wien zwischen 1988 und 1990 erschütterte, wurden zwei Mädchen und eine junge Frau ermordet. Zunächst schien alles auf einen Serienmörder hinzuweisen. Doch für zwei der drei Fälle wurden nach Jahren mithilfe von DNA-Analysen unterschiedliche Täter identifiziert.

Der dritte Mord blieb bis heute ungelöst – auch, weil nicht ausreichend biologische Spuren vorhanden waren. Im Fall Nicole S. ermittelte die Polizei mit großem Aufwand. Mehr als 1.600 Personen wurden überprüft, ohne Erfolg. Erst zehn Jahre später beschlossen die Ermittler, 25 unmittelbar nach dem Mord besonders Verdächtige noch einmal unter die Lupe zu nehmen.

Fast alle gaben eine DNA-Probe ab, bis auf eine Person.

Michael P., der zur Tatzeit mit Nicoles Tante liiert war und von ihr ein Alibi bekommen hatte. Wie sich herausstellte, hatte er schon früher die Abgabe einer Blutprobe verweigert. Doch im November 2001 wurde er wegen einiger Einbruchsdiebstähle verhaftet und ein Richter ordnete eine DNA-Abnahme an. Das Ergebnis war eindeutig – die klare Übereinstimmung, die ich vor Gericht erläuterte.

Am 2. Dezember 2003 befanden die Geschworenen Michael P. des Mordes für schuldig. Das Gericht verhängte eine lebenslange Freiheitsstrafe.“
Weitere Inhalte dieser Ausgabe:
Ihre Meinung
Ihre Meinung ist uns wichtig.

Schreiben Sie Ihren Kommentar zu diesem Artikel, den wir dann prüfen und veröffentlichen werden.
Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu verfassen.
Werbung