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Ausgabe Nr. 23/2025 vom 03.06.2025, Fotos: picturedesk.com, Youtube
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Zwei trauernde Väter.
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Frank-Walter Steinmeier mit Izchak Herzog
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Der UN-Sicherheitsrat.
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Dr. Feroze Sidhwa bei seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat.
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Das zerstörte „European Hospital“ in Khan Yunis.
Sekt für die Elite, eine Kugel für die Kinder
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Während die politische Elite von einem Festakt zum nächsten wankt, wird das Leben von abertausenden Kindern im Gazastreifen ausgelöscht. Es sei das Schlimmste, was er je erlebt hat, meint der amerikanische Chirurg Feroze Sidhwa. Er hilft dort, wo die Not am größten ist.
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Zynischer kann eine Gesellschaft wohl nicht sein. Mitte Mai hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen israelischen Amtskollegen Izchak Herzog zum Staatsbesuch empfangen. Gefeiert wurden 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Die feudale Umgebung bildete Schloss Bellevue, es dient seit dem Jahr 1994 als Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten in der Hauptstadt Berlin.

In seiner Rede erklärte Steinmeier, „die ganz und gar unglaubliche deutsch-israelische Versöhnungsgeschichte“ könne womöglich ein Hoffnungsschimmer über sie hinaus sein: „Frieden ist möglich, Versöhnung ist möglich.“ Dann haben sie bei einem Galadinner auf ihre Freundschaft mit Sekt angestoßen. Praktisch zur gleichen Zeit wurden von der israelischen Armee im Gazastreifen Männer, Frauen und Kinder ermordet. Niedergebombt und gezielt erschossen, wie der amerikanische Arzt Feroze Sidhwa zu berichten weiß. Er wagt sich immer wieder in die gefährlichsten Gebiete der Welt, um schwerverletzten Menschen zu helfen. Der Unfallchirurg aus Kalifornien war zwei Mal im Gazastreifen, um dort als freiwilliger Arzt in Khan Yunis zu arbeiten, er war auch drei Mal in der Ukraine und in Burkina Faso, Haiti und Simbabwe. Aber was er im Krieg der Israelis gegen die Hamas-Terroristen erlebt hat, beschäftigt ihn noch immer.

Vor wenigen Tagen durfte er seine Eindrücke und Erlebnisse dem höchsten Gremium der Vereinten Nationen, dem UNO-Sicherheitsrat in New York, schildern.

Im Gespräch mit dem Reporter Michael Holmes, der sich auf globale Gewalt und moderne Geschichte spezialisiert hat, erzählt er von schier unmenschlichen Gräueltaten. Es ist fast schon beschämend zu sagen, dass Menschen dafür verantwortlich sind.

Herr Dr. Sidhwa, Sie haben Ihr Leben im Gazastreifen riskiert, um andere Leben zu retten. Was haben Sie gesehen?

Ich war schon zwei Mal in Gaza. Das erste Mal war ich vom 25. März bis zum 8. April 2024 in Khan Yunis (das ist die zweitgrößte Stadt im Gazastreifen und liegt im Süden) im „European Hospital“, das am östlichen Rand der Stadt liegt, und als ich dort war, sah ich eine große Anzahl von Kindern, denen in den Kopf geschossen wurde. Ich versuche, in dieser Hinsicht so konservativ wie möglich zu sein. Ich habe ein Tagebuch geführt, während ich dort war, und in diesem Tagebuch habe ich 13 Fälle von Kopf- oder Brustschüssen bei präpubertären Kindern festgehalten, also Kinder unter zwölf Jahren. Und das waren einzelne Schüsse. Nach meiner Rückkehr habe ich angefangen, mit anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens zu sprechen, die in Gaza waren, und die meisten von ihnen haben dasselbe gesehen. Sie haben gesehen, wie kleinen Kindern regelmäßig, wenn nicht sogar täglich, in den Kopf oder in die Brust geschossen wurde.

Sie meinen, israelische Soldaten haben gezielt kleine Kinder ermordet?

Es könnte eine Komponente im Kampf gegen die Hamas sein. Ich bin sicher, dass die Israelis die Hamas gerne loswerden würden, aber das erklärt nicht, was wir dort gesehen haben. Ein Kind könnte freilich im Kreuzfeuer verletzt oder einfach von einem sadistischen Soldaten erschossen worden sein oder von einem Hamas-Verrückten, der sagt: So werde ich den israelisch-palästinensischen Konflikt lösen, indem ich jemanden davon überzeuge, dass Kindern in den Kopf geschossen wird. All das ist möglich, um den Tod von einem Kind, von zwei Kindern, fünf Kindern oder zehn Kindern zu erklären.

Es erklärt aber nicht, wie im Einzugsgebiet jedes Spitals im Gazastreifen seit mehr als einem Jahr regelmäßig, wenn nicht sogar täglich, einem kleinen Kind in den Kopf geschossen wird. Es erklärt dieses Muster nicht. Die Produzenten der amerikanischen Sendung „This American Life“ haben einen israelischen Soldaten zu diesem Thema befragt, und seine Schlussfolgerung war im Grunde genau dieselbe wie meine. Er hat uns nicht der Lüge bezichtigt, was ich interessant fand. Es ist völlig klar, dass die israelische Armee weiß, dass dies vor sich geht, und sie hat beschlossen, nichts dagegen zu unternehmen. Das ist einfach offensichtlich. Es gibt keine andere Erklärung dafür. Auch hier muss ein Kriegsverbrechensermittler jeden einzelnen Fall untersuchen.

Wir wollen nicht hintanstellen, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 bei ihrem Angriff israelische Kinder getötet hat …

Es gibt keinen Grund für irgendjemanden, zu leugnen, dass der Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 ein schockierendes Verbrechen war. Hatte es einen Hintergrund? Kam es aus heiterem Himmel? Nein, es kam natürlich nicht aus heiterem Himmel. Aber nichts kann die Tötung von 850 Zivilisten rechtfertigen. Die Tötung von 350 bewaffneten Menschen ist auch schwer zu rechtfertigen. Niemand glaubt, dass die Hamas unfähig ist, Kinder zu töten. Sie hat es schon einmal getan.

Wenn Sie die von Ihnen und Ihren etwa 60 Kollegen dokumentierten Fälle von Kindern, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen wurde, zusammenzählen – wie viele Fälle haben Sie?

Das ist schwer zu beantworten. Ich bin noch nie zu meinen Kollegen gegangen und habe gesagt: Erzähl mir von dem Kind, das du am ersten Tag gesehen hast. Erzähl mir von dem Kind, das du an Tag zwei gesehen hast. Es gibt Menschen, die sich derzeit mit dieser Arbeit beschäftigen und versuchen, diese Art von detaillierterer Dokumentation zu erhalten. Kollegen haben Zahlen von bis zu 50 Kindern genannt, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen wurde. Wie hoch die Gesamtzahl ist, weiß ich nicht. Aber das Wichtigste in diesem Zusammenhang ist, dass wir uns eigentlich gar nicht auf die Kopf- und Brustschüsse konzentriert haben, denn das ist bei Weitem nicht die häufigste Art, wie Kinder in Gaza getötet werden. Kinder in Gaza werden genauso wie alle anderen Menschen durch Bombardierungen getötet. Das ist die große Mehrheit, aber wenn ein Kind unter einer Bombe stirbt, ist es für die Israelis einfach: Das Kind war zufällig da. Es ist ein Kollateralschaden. Das lässt sich bei dem von uns beschriebenen Muster nicht sagen, und das ist der Grund, warum wir uns schließlich darauf konzentriert haben.

Mit derartigen Anschuldigungen an die Öffentlichkeit zu gehen ist immer schwierig, weil sofort die „Gutmenschen“ auf den Plan treten und alles in Abrede stellen …

Da stimme ich Ihnen zu. Nur damit die Menschen es verstehen, ich bin kein Araber. Ich bin auch kein Palästinenser. Ich bin kein Christ, kein Jude und kein Muslim. Meine Familie gehört zu einer kleinen ethnischen Minderheit in Indien und Pakistan. Sie sind in die USA ausgewandert. Ich bin in Amerika geboren und habe in Israel gelebt. Ich habe meine Zeit in der weltlichen, linksgerichteten israelischen Gesellschaft genossen. Ich habe zahlreiche Israelis kennengelernt. Mit vielen stehe ich noch in Kontakt. Ich möchte also nicht, dass die Menschen denken, ich sei nur hier, um zu sagen: Schaut her! Schaut, wie gemein die Israelis sind. Nein, in jedem Kriegsgebiet werden Kinder erschossen.

Sie waren ja auch in der Ukraine im Einsatz …

Der Vergleich mit der Ukraine ist wirklich nützlich. Bis zum 7. Oktober 2023 war die Ukraine der Ort auf der Welt, an dem am meisten Kinder in bewaffneten Konflikten getötet wurden. Wenn ich mich recht erinnere, wurden im Jahr 2022, in dem Jahr der russischen Invasion, und dem sicherlich intensivsten Jahr der Bombardierung, 732 Kinder in der Ukraine getötet. Nun leben in der Ukraine etwa 39 Millionen Menschen. Es ist also ein großes Land.

Im Gazastreifen wurden im ersten Jahr des Konfliktes nachweislich etwa 15.000 Kinder getötet. Die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich wesentlich höher, aber ich kann es nicht beweisen. Halten wir uns also einfach an das, was wir wissen. Wenn wir die Größe der Bevölkerung berücksichtigen, ist die Zahl der getöteten Kinder der Palästinenser fast 400 Mal höher als in der Ukraine. 400 Mal höher! Kann man das mit einem normalen Krieg erklären? Wie kann es sein, dass der bisher tödlichste Konflikt für Kinder, was die Zahl der getöteten Kinder angeht, selbst in absoluten Zahlen, in der Bedeutungslosigkeit verblasst. Aber wenn man die Größe der Bevölkerung berücksichtigt, wird der Unterschied
enorm, und ich möchte die Menschen auf etwas hinweisen. Denn diese Katastrophe ist nicht nur auf diese eine Kennzahl beschränkt.

Wie meinen Sie das?

Schauen wir uns die Angriffe an. Ich weiß das, weil ich gerade eine Arbeit darüber schreibe. Betrachten wir die Angriffe auf die Gesundheitsversorgung und vergleichen wir die Ukraine mit dem Gazastreifen. Bis zum 7. Oktober 2023 war die Ukraine der Ort mit den meisten Todesopfern unter dem Gesundheitspersonal. Wenn wir jetzt die Pro-Kopf-Anpassung vornehmen, ist die Rate der Tötung von medizinischem Personal im Gazastreifen 110 Mal höher als in der Ukraine. Die Zahl der Angriffe auf das Gesundheitswesen, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung verhinderten, ist im Gazastreifen 267 Mal höher als in der Ukraine. Der Prozentsatz des Gesundheitspersonals in Haft ist im Gazastreifen 200 Mal höher als in der Ukraine. Das ist ziemlich schockierend. Die Menschen verstehen nicht, dass das, was den Palästinensern im Gazastreifen angetan wird, buchstäblich einzigartig in der Weltgeschichte ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist einer Bevölkerung nichts Derartiges angetan worden. Vielleicht kommt die Zerstörung von Osttimor dem nahe.

Und die Katastrophe spielt sich unmittelbar vor unseren Augen ab.

Das stimmt, wobei viele von uns mitschuldig sind. Ein weiterer Datenpunkt stammt von „Airwars“, einer britischen Nichtregierungsorganisation, die die Auswirkungen von Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung untersucht. Sie meldete die meiner Meinung nach schockierendste Statistik, die ich je gesehen habe. Im Jahr 2016, dem tödlichsten Jahr für Kinder in Konfliktgebieten, wurden nachweislich 1.923 Kinder durch Luftangriffe getötet. Diese Zahl unterstreicht den verheerenden Tribut, den die moderne Kriegsführung, insbesondere Luftangriffe, von der schwächsten Bevölkerungsgruppe fordert. In den ersten 24 Tagen des israelischen Angriffes auf den Gazastreifen, vom 7. bis 31. Oktober 2023, wurde mit 1.900 fast die gleiche Anzahl von Kindern getötet.

Israelische Schlüsselfiguren wie Finanzminister Bezalel Smotrich oder der rechtsextreme Itamar Ben-Gvir haben offen Pläne erörtert, die zutiefst beunruhigend sind, wie die Bombardierung von Hilfsdepots in Gaza. Diese Äußerungen spiegeln eine brutale, Dschingis-Khan-ähnliche Mentalität wider. Wenn die israelischen Streitkräfte jedoch weiterhin Zivilisten abschlachten, was sie bereits in vielen Massakern getan haben, könnte der Druck der internationalen Gemeinschaft überwältigend werden.

Anmerkung: Dieser Druck hat sich in den vergangenen Tagen bereits bemerkbar gemacht. So hat die slowenische Präsidentin Pirc Musar das Schweigen Europas zu Israels Vorgehen kritisiert. „Was wir in Gaza sehen, ist Völkermord, und wir sehen zu.“ Irland will ein Handelsverbot für israelische Firmen beschließen, die in den besetzten palästinensischen Gebieten agieren. Und Schweden fordert gar EU-Sanktionen gegen Israel.

Auch der Chef des israelischen linken Oppositionsbündnisses, Jair Golan, übte kürzlich scharfe Kritik an der Netanjahu-Regierung wegen der vielen palästinensischen Todesopfer im Gazastreifen. Golan meinte, „ein vernünftiger Staat kämpft nicht gegen Zivilisten, tötet nicht Kinder als Hobby und macht es sich nicht zum Ziel, die Bevölkerung zu vertreiben“.

Er unterstellte der Regierung außerdem, sie sei „voll rachsüchtiger Typen, denen Verstand und Moral fehlen und die nicht fähig sind, einen Staat in einer Krise zu führen“. Ferner plädierte er dafür, die Regierung so schnell wie möglich auszuwechseln, damit der Krieg beendet werden kann.
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