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Ausgabe Nr. 45/2024 vom 05.11.2024, Fotos: zvg
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Paul Vautrinot mit seiner Frau Kaylyn, die ihm Hoffnung und Zuversicht gegeben hat.
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Paul Vautrinot und seine Kinder
Ein Dasein im Dunkeln
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Las Vegas (USA) ist für seine glitzernden Casinos bekannt. Doch in den Tunneln unter der Stadt hausen tausende Obdachlose im Dunkeln. Einer von ihnen war Paul Vautrinot, er lebte im Untergrund. Heute hat er eine Frau und Kinder und hilft anderen, die noch immer dort leben.
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Die Dunkelheit im Tunnel ist bedrückend. Paul Vautrinots Schritte hallen von den Betonwänden wider. Sie sind mit Graffiti besprüht. „Gott lebt hier nicht“, steht da. Es riecht modrig, Schaben und Ratten flüchten vor dem 37jährigen über den Boden, den er ausleuchtet. Im Gepäck hat er die „harte Währung“ der Unterwelt. „Trinkwasser, Müsliriegel, Batterien für Taschenlampen und Socken. Sauber und trocken müssen sie sein. Damit bezahlen Menschen, die ihre letzte Waschmaschine vor Jahren besessen haben, hier unten.“

„Ich war acht Jahre süchtig und obdachlos“

„Hier unten“ ist das Tunnelsystem der amerikanischen Glücksspielmetropole Las Vegas (Nevada, USA). Paul Vautrinot besucht jene Menschen, die im „Gedärm der Stadt“, weit abseits der prunkvollen Glitzerwelt, leben. Schätzungen zufolge fristen tausende Obdachlose in dem ausgedehnten 600-Kilometer-Labyrinth unterhalb der Luxushotels ihr Dasein. Es ist eine zweite, geheime Stadt, direkt unter den Füßen der Touristen, die am Strip (Casinomeile der Stadt) nichts davon mitbekommen. Jugendliche leben hier ebenso wie Senioren, erklärt Vautrinot. „Es ist ein Umschlagplatz für Drogenhändler und Süchtige. Einige haben ihren gesamten Besitz in den Casinos verloren. Andere hoffen, sich den amerikanischen Traum verwirklichen zu können.“

Eine Verordnung verbietet es den Menschen, im öffentlichen Raum zu schlafen. Verstöße werden mit Geld- oder Haftstrafen geahndet. In den dunklen Höhlen finden die Obdachlosen Schutz vor den Bürgern und den Behörden der Stadt sowie vor der Hitze im Sommer. Doch das Tunnelsystem birgt auch Gefahren, denn es wurde ursprünglich dafür gebaut, den Regen aufzufangen. Das kommt in der Wüstenregion Nevadas nur zwei Mal im Monat vor, allerdings steht dann innerhalb von Minuten alles unter Wasser. Immer wieder ertrinken Menschen, die sich vor den Fluten nicht retten oder gar nicht erst schwimmen können.

Das Leben im Tunnel ist ein täglicher Kampf ums Überleben, gezeichnet von Hunger, Armut und Gewalt. Paul Vautrinot weiß darüber bestens Bescheid, denn er selbst hat den Tunnel drei Jahre lang sein Zuhause genannt. Davor war der 37jährige bereits fünf Jahre auf der Straße, denn er war fast ein Jahrzehnt lang süchtig nach Meth und Heroin.

Geboren und aufgewachsen in Las Vegas, kannte er jeden Winkel der Stadt. Seine Mutter war Prostituierte und Alkoholikerin, ebenfalls drogenabhängig. Über die Tochter eines Lokalpolitikers begann er im Jugendalter mit Drogen zu experimentieren. Die Nadel landete in seinem Unterarm, und er zeitgleich im Untergrund.

„Tageslicht habe ich nur gesehen, wenn ich betteln gegangen bin. Im Dunkeln habe ich mich zu Hause gefühlt. Es gibt da unten keine Elektrizität, kein fließendes Wasser. Aber wir hatten Betten, Tische, Sessel, Kühlboxen, Fahrräder, sogar Grillplatten. Einige hatten Katzen oder Hunde als Haustiere. Alles vom Bordstein oder aus Müllcontainern gezogen.“ Vautrinot räumt aber ein, „Es war nicht alles schlecht. Ich hatte Freundschaften, sogar ein paar Beziehungen. In den Tunneln haben sich Gemeinden und eigene Kulturen gebildet. Es gibt Bräuche, Rituale, Regeln und inoffizielle Anführer.“

„Meine Familie hat mir Hoffnung gegeben“

Dennoch gibt er zu bedenken, „Wenn du jahrelang dort lebst, wird das zu deinem Alltag. Du hast keinen Bezug mehr zur Realität, keine Hoffnung mehr. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem mir klar wurde, dass ich dort unten sterben würde und ich war damit einverstanden.“ Der Wendepunkt in seinem Leben wurde seine Verhaftung wegen Drogenhandels im Jahr 2014. Damals beschloss er, sein Leben ein für alle Mal zu ändern und einen Entzug zu machen.

Er nahm eine Stelle in der Autowaschanlage an, über dem Tunnel, in dem er früher gewohnt hatte, und lernte seine jetzige Frau kennen. „Ich wollte meinem Leben einen Sinn geben und nicht ständig ,high‘ sein.“ Vautrinot hat es geschafft. Er ist der Obdachlosigkeit entkommen und hat dem Tunnel den Rücken gekehrt. Mittlerweile ist er verheiratet mit Kaylyn und hat einen Sohn und eine Tochter. „Meine Familie hat mir Hoffnung gegeben.“ Jetzt hilft er anderen, aus dem Teufelskreis auszubrechen.

Als Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation „Shine a light“ (Bring mir etwas Licht) ist er mehrmals im Monat im Tunnel unterwegs, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und sie über einen Ausstieg zu informieren. „Viele haben Angst oder fühlen sich nicht bereit für die reale Welt.“ Die Organisation bietet Wohnraum, eine Drogenberatung und Berufsausbildung. „Wir helfen ihnen mit Dokumenten, Formularen und Ausweisen.“

Das dauere oft Jahre, aber er sei geduldig. „Es ist meine persönliche Mission, ihnen einen Ausweg und ein offenes Ohr anzubieten. Ich will der Gemeinschaft, der ich einst angehörte, etwas zurückgeben.“ Nebenbei ist Vautrinot ehrenamtlich bei „There is no hero in heroin“ (Da ist kein Held in Heroin) aktiv. Er möchte so vielen Menschen wie möglich ein Vorbild sein und Hoffnung geben. „Ich will ihnen das Licht am Ende des Tunnels zeigen.“ Schuh
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