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Ausgabe Nr. 46/2023 vom 14.11.2023, Fotos: AdobeStock
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Claudia Sengeis mit ihrem Sohn Dustin: „Ich bin rund um die Uhr beschäftigt.“
Unbezahlt und alleingelassen
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Eine Million Menschen pflegen ihre Angehörigen, meistens Frauen. Einen Lohn dafür gibt es nicht. Nach dem Burgenland will jetzt aber auch Graz pflegende Angehörige anstellen.
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Der 28jährige Dustin hat eine Blasenentleerungsstörung, verursacht durch eine Schädigung des Nervensystems. Bei ihm wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert ebenso wie eine Entwicklungsstörung, Epilepsie und Schizophrenie. „Vormittags ist er in der ,Tagesstruktur‘, sozusagen seiner Arbeitsstätte, sonst ist er die ganze Zeit mit mir zusammen“, erzählt seine Mutter Claudia Sengeis.

Sie kümmert sich rund um die Uhr um Dustin. „Ich mache pflegerische Tätigkeiten wie Katheter setzen, helfe ihm, aufs Klo zu gehen, helfe ihm beim An- und Ausziehen. Ich beschäftige ihn, damit er seine Zeit nicht nur mit Herumsitzen und Nichtstun verbringt, plaudere mit ihm, manchmal gehe ich mit ihm ins Kino, wenn es sich ausgeht.“
Alleine lassen kann die 52jährige ihren Sohn nicht. „Es muss immer irgendjemand zuhause sein. Ich bin rund um die Uhr beschäftigt, auch nachts, wenn Dustin nervös wird.“ Früher ging sie Teilzeit arbeiten. „Dann habe ich ein Burn-out bekommen, es ist nicht mehr gegangen.“

Claudia Sengeis hat die Selbsthilfegruppe „Enthindert“ gegründet, eine Initiative für Eltern und Angehörige, die pflegen und betreuen. Nach Jahrzehnten der Pflege ihres Sohnes weiß sie: „Man hat eigentlich kein eigenes Leben mehr. Pflegende Angehörige müssen sich bewusst Zeit für sich freischaufeln, versuchen, auch einmal über andere Dinge nachzudenken als über die Pflege.“
Zur Pflege kommen Behörden-Anträge, die Kommunikation mit der Krankenkassa. „Das sind alles Dinge, die mühsam sind und viel Energie kosten.“ Sie wünscht sich mehr Aufmerksamkeit von der Politik.

„Die Verantwortlichen sollten uns zuhören“

„Es geht immer nur um die Altenpflege und es gibt wenig Verständnis dafür, dass auch Eltern pflegen. Die Verantwortlichen sollten uns zuhören und wirklich darauf eingehen, was wir brauchen. Es wird uns immer nur gesagt, was wir zu brauchen haben.“
Rund eine Million Menschen pflegen hierzulande ihre Angehörigen. Mit ihren Sorgen und Ängsten lässt sie der Staat oft im Stich.
„Es gibt Unterstützungsangebote von der öffentlichen Hand, aber die meisten Menschen kommen nicht dazu. Sie werden alleingelassen“, sagt Birgit Meinhard-Schiebel, die Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger (www.ig-pflege.at). „Es wird ihnen zwar gesagt, was es gibt, aber niemand kümmert sich darum, ob die Betroffenen genau verstanden haben, was sie tun können und wie das funktioniert.“
Ein Beispiel sei das kostenlose Angehörigengespräch des Sozialministeriums. „Dort könnten sie immer wieder einmal mit jemandem reden und ihre Situation schildern. Das wissen aber viele nicht.“ Ein anderes Beispiel ist der neu beschlossene Angehörigenbonus ab der Pflegestufe 4 mit monatlich 125 Euro. „Den muss man aber beantragen. Das ist dann für viele Menschen wieder eine bürokratische Hürde, bei der sie die Nerven wegwerfen und darauf verzichten.“

60 bis 90 Prozent des Pflegegeldes für Anstellung

Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zuhause und nicht im Heim betreut, ohne Lohn. Nur im Burgenland können derzeit pflegende Angehörige angestellt werden. Derzeit sind es knapp 300, die das Modell in Anspruch nehmen.
Einen Gutteil der Anstellung bezahlen dabei die Pflegebedürftigen selbst. Je nach Pflegestufe werden 60 bis 90 Prozent des Pflegegeldes als Selbstbehalt verrechnet. Auch ein Teil der Pension wird für das Angehörigen-Gehalt herangezogen, und zwar jener, der über dem burgenländischen Sozialhilfegesetz-Richtsatz liegt. Der liegt derzeit bei 1.054 Euro für Alleinstehende.
Den überwiegenden Teil des Lohnes finanziert aber das Land. „Das variiert etwas je nach Pflegestufe, aber im Schnitt beträgt der Anteil an Personalkosten, der vom Land Burgenland finanziert wird, etwa zwei Drittel“, sagt Johannes Zsifkovits, der Geschäftsführer der Sozialen Dienste Burgenland.

Von der Pflegestufe hängt auch das Ausmaß der Anstellung zwischen 20 und 40 Wochenstunden ab. Erst ab Stufe 5 ist das Vollzeitgehalt möglich. Das beträgt dann 2.863 Euro brutto im Monat, 14 Mal pro Jahr. Netto bleiben etwas mehr als 2.000 Euro übrig. Voraussetzung ist zudem eine Grundausbildung mit 100 Stunden.
Für heuer hat das Burgenland 8,5 Millionen Euro für das Projekt vorgesehen. „Der Anteil der Frauen im Anstellungsmodell beträgt knapp 80 Prozent“, weiß Johannes Zsifkovits. „Etwa 30 Prozent der pflegebedürftigen Personen sind Kinder.“ Ab 1. Jänner können auch Nachbarn oder enge Freunde angestellt werden, nicht mehr nur Verwandte.

Claudia Sengeis hält vom burgenländischen Modell wenig, auch für Birgit Meinhard-Schiebel hat es „etliche Pferdefüße“, unter anderem die Mit-Finanzierung durch Pflegegeld und Pension. „Es braucht einen Einkommensersatz für pflegende Angehörige von der öffentlichen Hand, aber nicht unter diesen Voraussetzungen“, ist sie sicher. „Sie erbringen jähr-
lich unbezahlte Arbeit im Wert von drei Milliarden Euro. Wenn wir uns so viel Geld im System sparen, dann muss der Staat etwas zurückgeben.“

Viele Pflegende wüssten allerdings nicht, „dass sie sich beim Bund pensions- und krankenversichern lassen können, wenn sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Es gibt kein Gehalt, aber zumindest die soziale Absicherung.“
Die steirische Landeshauptstadt Graz hat sich dennoch das Burgenland als Vorbild genommen. Die dortige Koalition aus Kommunisten, Grünen und SPÖ beginnt ab Jänner mit einem Pilotprojekt. Im ersten Jahr werden 15 Personen angestellt, die Angehörige mit den Pflegestufen 3, 4 und 5 betreuen.

Auf die Pension will die Grazer Stadtregierung nicht zugreifen. Der Anteil, der vom Pflegegeld „abgegeben“ werden muss, ist mit 50 Prozent beschränkt. Dafür gibt es eine Einkommensgrenze, um beim Projekt mitmachen zu können.

Ein Pflegeheimplatz kostet insgesamt 5.000 Euro

„Bei uns sind nur pflegebedürftige Personen bis zur Armutsgefährdungsstelle berechtigt“, erklärt der KPÖ-Gesundheitsstadtrat Robert Krotzer. Die liegt derzeit bei knapp 1.400 Euro. „Weil es ein relativ kleines Pilotprojekt ist, wollten wir, dass Personen mit einer niedrigen Pension den Anspruch haben.“

Das Modell kann „ein Teil der Zukunft sein“, meint Robert Krotzer. Zumal es oft schwierig ist, Heimplätze zu bekommen und auch bei den mobilen Diensten die Situation angespannt ist. Insgesamt knapp 5.000 Euro kostet ein Pflegeheimplatz im Monat. „Jede Form der nichtstationären Unterbringung ist klarerweise kostengünstiger, auch mit der Anstellung.“

Leicht wird das Leben den pflegenden Angehörigen aber oft nicht gemacht. „Eine besonders betroffene Gruppe sind die pflegenden Mütter von Kindern mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung“, kritisiert Meinhard-Schiebel.
„Die Mütter machen das ein ganzes Leben lang, auch wenn die Kinder längst Erwachsene sind.“ Oft sind sie auch Alleinerzieherinnen. „Das Problem ist, wenn sie Notstandshilfe beziehen, müssten sie dem Arbeitsmarkt 16 Stunden pro Woche zur
Verfügung stehen. Das können sie jedoch nicht aufgrund der Erkrankung ihrer Kinder. Dann verlieren sie aber den Anspruch auf Notstandshilfe.“ Jetzt prüft auch die Volksanwaltschaft die Regelung.


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