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Ausgabe Nr. 19/2023 vom 09.05.2023, Fotos: Tadek Ciechanowski, zVg
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Extremradler Christoph Strasser: In 28 Stunden von Nickelsdorf (B) nach Dornbirn (V)
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Strasser und seine Freundin Sabine, rechts seine gezeichneten Hände und Füße nach dem Rennen.
Strampeln gegen Halluzinationen und Schlaf
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Er radelt unter härtesten Bedingungen von Rekord zu Rekord. Am Wochenende will er unbetreut vom Neusiedlersee (B) zum Bodensee (V) fahren.
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Schlaf braucht er nicht. Stattdessen steht für Christoph Strasser, 40, ab Samstag stundenlanges Pedaltreten ohne Pause auch bei Hitze, Regen oder Kälte auf dem Programm. „Ich starte am östlichsten Punkt unseres Landes in der Nähe vom burgenländischen Nickelsdorf und radle dann über Semmering, Schladming, Bischofshofen, Innsbruck und Imst bis nach Dornbirn in Vorarlberg“, skizziert der Grazer jene Route, die ihn über 720 Kilometer vom Neusiedlersee zum Bodensee führen wird. „Mein Ziel ist es, diese Strecke in unter 28 Stunden zu bewältigen, einem unbetreuten Extemsportler gelang so etwas noch nicht.“

Das Abenteuer ist für „Chris“, wie er genannt wird, auch eine Standortbestimmung vor dem „Transkontinental Race“, bei dem er im Sommer teilnimmt und wo Extremradler unbetreut von Belgien ans Schwarze Meer radeln. 2022 holte er den Titel. Davor gewann er sechs Mal mit seinem Betreuerteam beim „Race Across America“, dem härtesten Radrennen der Welt mit etwa 5.000 Kilometern quer durch die USA in rund 290 Stunden. Von all diesen extremen Bewerben brachte er Bilder mit, die seine danach rissigen Hände und Füße zeigen, oft ist der Allerwerteste wundgefahren, sogar Lungenödeme traten auf. „Schlaf kostet Zeit, deshalb halte ich ihn kurz“, erzählt er von seiner Rennstrategie. „Dafür ist die Gefahr eines Sekundenschlafes und Sturzes umso höher. Bei starkem Schlafentzug stellen sich sogar Halluzinationen und Angstzustände ein.“ Doch Strasser hat gelernt, die Schmerzen durch mentale Techniken auszublenden und lässt sich bei Halluzinationen von seinem Betreuerteam durch Gespräche wieder auf den Boden holen.

Bei der Fahrt zum Bodensee sollte es weniger dramatisch zugehen, da der Athlet ohne Betreuung mehr Sicherheit und Komfort einplant. Begleitet wird er nur von einem Kamerateam, die Fahrt kann im Internet (Adresse: k19.at) live mitverfolgt werden. Strasser stellt allerdings klar, dass die Qualen des Rennens nicht Selbstzweck sind. „Ich bin kein Masochist“, beteuert er. Schmerzen wären Teil des Rennens, würden aber von Außenstehenden als zu dominant wahrgenommen werden. „Ich selbst erlebe unterwegs die schönsten Sonnenuntergänge und die prachtvollsten Sternenhimmel, die mir unvergessliche Erlebnisse bescheren. Dafür betreibe ich diesen Sport.“

Strasser lenkt ein superleichtes Rad, das rund 20.000 Euro wert und mit jeder Menge Spezialtechnik wie Keramiklager, gewachster Kette oder Aero-Lenker verstärkt ist. Für den Samstag hat er, um im Straßenverkehr sicher zu fahren, riesige Scheinwerfer und einen speziellen Dynamo montiert.

Radelt der „Marathonmann“ einen Tag lang unter
Extrembedingungen, verbraucht er unglaubliche 15.000 Kalorien, das ist der Energiewert von 20 Pizzen oder 180 Bananen. „Um diesen Bedarf zu decken, trinke ich bei den meisten Rennen Flüssignahrung, wie sie in Krankenhäusern verwendet wird“, verrät er. „Sie belastet Körper und Darmtrakt am wenigsten.“

Am Wochenende kann er aus Gewichtsgründen nur einen kleinen Teil seiner Ernährung selbst transportieren, den Rest kauft er unterwegs. „Dann laufe ich bei Gelegenheit schnell in einen Supermarkt und kaufe im Grunde ungesundes Zeug wie paketierte Sandwiches oder zuckerhaltige Schokoriegel, denn ich will sicher gehen, dass es nicht verdorben ist.“

Zu Wettkampfzeiten sitzt Strasser täglich oft vier Stunden in seinem Trainingskeller am Ergometer und schaut dabei Filme. Manchmal allerdings wundert er sich, wo seine enorme Disziplin bleibt, wenn er absteigt. „Privat bin ich so faul wie jeder andere“, lacht er, „und kann mich kaum dazu aufraffen, mein Rad zu putzen.“ In Graz bewohnt er mit Freundin Sabine, 35, ein Haus mit Garten und kocht fast jeden Tag frisch, pflanzt im Beet Zucchini, Karotten oder Zwiebel an und mahlt sein eigenes Getreide. „Gut zu essen ist eines meiner liebsten Hobbys“, berichtet Strasser, der gerne eine Thunfischpizza mit selbstgemahlenem Weizenmehl und Paradeiser aus dem Garten zubereitet.

„Mit 40 Jahren muss ich langsam ans Karriereende denken“, weiß er auch. Als weiteres Standbein betreibt er mit seiner Freundin einen eigenen Radzubehörhandel, schreibt Bücher und hält Vorträge über Motivation. „Aber ein paar Jahre auf höchstem Leistungsniveau sollten sich noch ausgehen.“ Wolfgang Kreuziger
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